• "Das Vater unser" mal anders

Version 1

Version 2

1
unser Vater
der du bist die Mutter
die du bist der Sohn
der kommt
um anzuzetteln
den Himmel
auf Erden
2
dein Name werde geheiligt
dein Name möge kein Hauptwort bleiben
dein Name werde Bewegung
dein Name werde in jeder zeit konjugierbar
dein Name werde Tätigkeitswort
3
bis wir
loslassen lernen
bis wir
erlöst werden können
damit
im verwehen des Wahns
komme
dein reich
4
in der Liebe
zum nächsten
in der Liebe
zum Feind
geschehe
dein Wille
durch uns
5
unser tägliches Brot
gib uns heute
damit wir nicht nur
für Brot uns abrackern müssen
damit wir nicht
von Brotgebern erpresst werden können
damit wir nicht
aus Brotangst gefügig werden
6
vergib uns
unsere schuld
und die schuld derer
die schuldig geworden sind
an uns
und was
wie niemandes schuld ist:
Sachzwänge Verhängnis Ignoranz
und unseren verdacht
du selber könntest schuldig geworden sein
an so viel elend an zu viel leiden
vergib
wie auch wir
7
und führe uns nicht
wohin wir wie blind
uns drängen
in die do-it-your-self-apokalypse2
sondern erlöse
uns von fatalität3 und Sachzwang
damit das leben
das du geschaffen
bleibe auf diesem kleinen
bisher unbegreiflich erwählten
Planeten
im schweigenden all
8
und zu uns
lass wachsen
den Baum des Glaubens
wurzelnd in dir
entfalte sich seine Krone
auf erden:
dein reich
das unsere Freiheit
deine kraft
die ohne Gewalttat
deine Herrlichkeit
durch die wir gelingen können
in Ewigkeit

"Vater unser, der du bist im Himmel..."

"Ja?"

"Unterbricht mich nicht, ich bete."

"Aber du hast mich doch angesprochen!"

"Ich dich angesprochen? äh... nein, eigentlich nicht. Das beten wir eben so: Vater unser, der du bist im Himmel."

"Da, schon wieder! Du rufst mich an, um ein Gespräch zu beginnen, oder? Also, worum geht's"

"Geheiligt werde dein Name..."

"Meinst du das ernst?"

"Was soll ich ernst meinen?"

"Ob du meinen Namen wirklich heiligen willst. Was bedeutet das denn?"

"Es bedeutet... es bedeutet... meine Güte, ich weiß nicht, was es bedeutet! Woher soll ich das wissen?"

"Es heißt, daß du mich ehren willst, daß ich dir einzigartig wichtig bin, daß dir mein Name wertvoll ist."

"Aha. Hm. Ja, das verstehe ich. Dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden..."

"Tust du was dafür?"

"Daß dein Wille geschieht? Natürlich! Ich gehe regelmäßig zum Gottesdienst, ich zahle Gemeindebeitrag und Missionsopfer."

"Ich will mehr: daß dein Leben in Ordnung kommt, daß deine Angewohnheiten, mit denen du anderen auf die Nerven gehst, verschwinden; daß du von anderen her und für andere denken lernst; daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, auch dein Vermieter und dein Chef. Ich will, daß Kranke geheilt, Hungernde gespeist, Traürnde getröstet und Gefangene befreit werden; denn alles, was du diesen Leuten tust, tust du doch für mich."

"Warum hälst du das ausgerechnet mir vor? Was meinst du, wie viele stinkreiche Heuchler in den Kirchen sitzen. Schaü die doch an!"

"Entschuldige! Ich dachte, du betest wirklich darum, daß mein Herrschaftsbereich kommt und mein Wille geschieht. Das fängt nämlich ganz pers. bei dem an, der darum bittet. Erst wenn du dasselbe willst wie ich, kannst du ein Botschafter meines Reiches sein."

"Das leuchtet mir ein. Kann ich jetzt mal weiterbeten? Unser tägliches Brot gib uns heute..."

"Du hast übergewicht, Mann! Deine bitte beinhaltet die Verpflichtung, etwas dafür zu tun, daß die Millionen Hungernden dieser Welt ihr tägliches Brot bekommen."

"Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern..."

"Und Heinz?"

"Heinz? Jetzt fang auch noch von dem an! Du weißt doch, daß er mich öffentlich blamiert hat, daß er mir jedesmal dermaßen arrogant gegenübertritt, daß ich schon wütend bin, bevor er seine herablassenden Bemerkungen äußert. Und das weiß er auch! Er nimmt mich als Mitarbeiter nicht ernst, er tanzt mir auf dem Kopf herum, dieser Typ..."

"Ich weiß, ich weiß. Und dein Gebet?"

"Ich meinte es nicht so."

"Du bist wenigstens ehrlich. Macht dir das eigentlich Spaß, mit soviel Bitterkeit und Abneigung im Bauch herumzulaufen?"

"Es macht mich krank!"

"Ich will dich heilen. Vergib Heinz, und ich vergebe dir. Dann ist Arroganz und Haß Heinz Sünde und nicht deine. Vielleicht verlierst du Geld; ganz sicher verlierst du ein Stück Image, aber es wird dir Frieden ins Herz bringen."

"Hm. Ich weiß nicht, ob ich mich dazu überwinden kann."

"Ich helfe dir dabei."

"Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen..."

"Nichts lieber als das! Meide bitte Personen oder Situationen, durch die du versucht wirst."

"Wie meinst du das?"

"Du kennst doch deine schwachen Punkte. Unverbindlichkeit, Finanzverhalten, Sexualität, Aggression, Erziehung. Gib dem Versucher keine Chancen!"

"Ich glaube, dies ist das schwierigste Vaterunser, das ich je betete. Aber es hat zum ersten Mal etwas mit meinem alltäglichen Leben zu tun."

"Schön! Wir kommen vorwärts. Bete ruhig zu Ende."

"Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen."

"Weißt du, was ich herrlich finde? Wenn Menschen wie du anfangen, mich ernst zu nehmen, echt zu beten, mir nachzufolgen und dann das tun, was mein Wille ist; wenn sie merken, daß ihr Wirken für das Kommen meines Reiches sie letztlich selbst glücklich macht."